Ist das soziale Europa auf dem Holzweg?

Warum missbräuchliche Subunternehmervergabe das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort" zu Fall bringt

Gastkommentar von ÖGB-Präsident Wolfgang Katzian

Stellen Sie sich vor: Ein Zug. Ungarische und österreichische EisenbahnmitarbeiterInnen arbeiten Seite an Seite. Die Entlohnung der UngarInnen ist jedoch wesentlich geringer als die der österreichischen KollegInnen. Grundlegende Arbeitnehmerrechte stehen auf dem Spiel, wenn die Arbeit als billiges Gut gesehen wird und der Europäische Gerichtshof, der Recht sprechen soll, zulässt, dass der freie Dienstleistungsverkehr die sozialen Rechte aushebelt.

Die Europäische Union zählt den sozialen Fortschritt, die Nichtdiskriminierung und die Gleichberechtigung zu ihren Grundwerten, und Ziel des EU-Rechts muss es sein, diese Werte aufrechtzuerhalten und die ArbeitnehmerInnen zu schützen, die es regiert. Aber der Fall Dobersberger zeigt uns, dass Europa es unterlässt, die ArbeitnehmerInnen zu schützen, wenn sie es am meisten brauchen.

Ein Jahr ist seit dem Dobersberger-Urteil (C-16/18) vom 19. Dezember 2019 vergangen, mit dem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ein ungerechtes, unbegründetes und unverständliches Urteil gefällt hat: Ungarische ArbeitnehmerInnen, die Catering- und Reinigungsdienstleistungen auf einer Zugstrecke von Salzburg (Österreich) und München (Deutschland) nach Budapest (Ungarn) erbringen, können ungarischen Lohn für ihre im Ausland geleistete Arbeit erhalten. 

Der EuGH hat nicht nur ein Urteil gefällt, das gegen die Grundwerte der EU verstößt, sondern ist auch über sein Mandat hinausgegangen, indem er überraschend entschieden hat, dass Borddienste nicht zu einem erheblichen Teil der Arbeitszeit dieser ArbeitnehmerInnen zählen. Die Aufgabe des EuGH bei Vorabentscheidungen ist es, Leitlinien zur Auslegung des EU-Rechts zu geben und nicht zu Fakten. Die Beurteilung von Fakten ist allein Sache des verweisenden nationalen Gerichts.

Das Urteil bringt missbräuchliche Subauftragsvergaben ans Tageslicht, legitimiert diese aber leider auch. Es öffnet der grenzüberschreitenden Vergabe von Subaufträgen als Mittel zur Untergrabung und Umgehung geltender Branchentarifverträge Tür und Tor und führt so zu Sozialdumping und einer Fragmentierung des Arbeitnehmerschutzes.

Missbräuchliche Subauftragsvergabe in aller Kürze

Im Fall Dobersberger erhielt ein österreichisches Unternehmen einen Auftrag für Dienstleistungen, gründete daraufhin ein Tochterunternehmen in Ungarn und wandte sich zusätzlich an ein ungarisches Unternehmen, um den Auftrag auszuführen — vereinfacht ausgedrückt, eine Subauftragsvergabe. Das österreichische Unternehmen nutzte den benachbarten Arbeitsmarkt aus, da die ungarischen Löhne und Arbeitsbedingungen niedriger sind, indem es eine Subauftragsvergabekette aufbaute, die es ihm ermöglichte, die österreichischen Arbeitsvorschriften zu umgehen. Dadurch entsteht die Situation, dass Arbeitnehmer, die die gleiche Arbeit am gleichen Ort verrichten, unterschiedliche Löhne erhalten und unterschiedliche Arbeitsbedingungen haben.

Sind systematisches Lohn- und Sozialdumping die neue Norm? Nicht solange die Gewerkschaften darüber wachen!

EU-Vorschriften, die erlassen wurden, um sicherzustellen, dass alle ArbeitnehmerInnen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gleich behandelt werden, werden schnell unterminiert, wenn der Grundsatz der Gleichbehandlung bei der Auslegung und Anwendung des EU-Rechts außer Acht gelassen wird.

Es ist inakzeptabel, dass europäische Gerichte durch schädigende Interpretationen missbräuchlichen Praktiken Tür und Tor öffnen, die die BürgerInnen, die sie zu schützen verpflichtet sind, Ungerechtigkeiten aussetzen.

Das Dobersberger-Urteil schafft nicht nur für die EisenbahnerInnen einen gefährlichen Präzedenzfall, sondern auch für andere. Lohndumping-Praktiken sind in Europa bereits in vielen Branchen weit verbreitet. BauarbeiterInnen, Lkw-FahrerInnen, Kabinenpersonal und SaisonarbeiterInnen sind alle davon betroffen.

Der Eisenbahnsektor, der einst von einer Kultur der Einhaltung sozialer Rechte geprägt war, steht nun am Rande des Absturzes in die Sozialdumping-Falle. Das Jahr 2021 soll das Europäische Jahr der Eisenbahn werden. Wir fordern daher die EU-Institutionen auf, den sozialen Ruf des Sektors zu stärken, statt ihn zu untergraben. 

Um eine Ausbreitung missbräuchlicher Praktiken zu vermeiden, muss die EU ihre Anstrengungen für ein sozialeres Europa verstärken. Das Dobersberger-Urteil zeigt, dass dringend gehandelt werden muss, um missbräuchliche Subauftragsvergaben genau zu untersuchen.

Um sicherzustellen, dass die grundlegenden Arbeitnehmer-, Sozial- und Gewerkschaftsrechte Vorrang vor den wirtschaftlichen Freiheiten haben, fordert die europäische Gewerkschaftsbewegung außerdem die Aufnahme eines Protokolls zum sozialen Fortschritt in die EU-Verträge. Dieses Thema muss im Mittelpunkt der Debatte der kommenden Konferenz über die Zukunft Europas stehen.

Die Gewerkschaften werden weiterhin gemeinsam für gleiche Bedingungen für die Beschäftigten kämpfen, die Seite an Seite arbeiten - sei es auf der Schiene, in anderen Verkehrsträgern oder in jedem anderen Sektor. Es ist höchste Zeit, den Missbrauch der Binnenmarktregeln, bei dem die ArbeitnehmerInnen gegeneinander ausgespielt werden, zu beenden.

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